Teil 1: Einführung in die Selbsthilfe
Teil 2: Wirkungsweise der Selbsthilfe
Teil 3: Selbsthilfe in der Schweiz
Roger arbeitet seit ein paar Wochen in einem 35%-Pensum bei der Psychiatrischen Tagesklinik im Clienia Psychiatriezentrum Frauenfeld als Peer-Mitarbeiter. Als «Experte aus Erfahrung» leitet er dort drei verschiedene Patientengruppen. Daneben besucht der Zweiundfünfzigjährige auch selber eine Selbsthilfegruppe. Sein Leben war noch nie so gut wie gerade jetzt, sagt er.
Rogers Leidensgeschichte beginnt in seiner Kindheit. Als er vier Jahre alt war, kamen er und sein Bruder zu lieblosen Pflegeeltern. Er eignete sich schon früh eine Überlebensstrategie an und konnte sämtliche Gefühle und Emotionen einfach ausschalten. Sein Vater, in einer neuen Beziehung, holte die Buben ein paar Jahre später zurück. Schläge waren Programm. Als Jugendlicher fing Roger an, sich selber zu verletzen, schnitt sich, fügte sich Brandwunden zu und steckte sich dicke Nadeln durch die Haut. Seinen ersten Suizidversuch machte er mit 14 Jahren, seinen vierten und letzten mit 22. Zu dieser Zeit war er obdachlos und heroinsüchtig. Roger war ein Platzspitz-Süchtiger und hielt sich als Dealer sowie mit Wirtschaftsdelikten über Wasser. Bis er erwischt und zu 7 Jahren Haft verurteilt wurde. Sein Glück war, dass er seine Gefängnisstrafe in eine zweieinhalbjährige Drogen-Reha umwandeln konnte. «Das Gefängnis hätte ich nicht überlebt», ist er überzeugt. Er begann, sich sportlich zu betätigen und leitete Jugendgruppen, was ihm grossen Spass bereitete. Sein Leben geriet in eine grosse Aufwärtsspirale und endlich erlebte Roger einen Sinn in seinem Dasein.
Fortan arbeitete Roger im Detailhandel, lernte seine künftige Frau kennen, gründete eine Familie. Die Ehe hielt nicht. Roger war in einer neuen Beziehung, bis er mit Mitte Vierzig einen Zusammenbruch hatte. Seine Lebenspartnerin hinterging ihn, sein Arbeitgeber stufte ihn finanziell und hierarchisch zurück und ein guter Freund nahm sich das Leben. So wurde Roger per Fürsorgerischer Unterbringung (FU) nach Littenheid eingewiesen. Schon nach kurzer Zeit kam er dort zur Erkenntnis, dass er etwas ändern musste, wenn er weiterleben wollte. Seine Vergangenheit arbeitet er jetzt in einer ambulanten Therapie auf. Und er absolvierte eine Peer-Ausbildung, die er kürzlich erfolgreich abschloss.
Seit seinem Klinikaufenthalt besucht er regelmässig eine Selbsthilfegruppe im Thurgau. Die Gruppe ist an keine bestimmte Diagnose gebunden, sondern für alle offen, die an einer psychiatrischen Erkrankung leiden. Die Themen werden von der Gruppe selbst festgelegt und reichen von Selbstfürsorge über Aromatherapie, Umgang mit Stress oder Angst bis hin zu Narzissmus oder Stigmatisierung. Man pflegt einen sehr offenen Umgang und Roger schätzt diesen Austausch, voneinander zu lernen, sehr. Er konnte sich immer rausnehmen, was für ihn persönlich stimmte, das fand Roger wichtig. «Veränderungen passieren nicht von selbst. Man muss etwas dafür tun», sagt er. Und so empfiehlt er denn auch, dass sich jede und jeder selbst ein Bild machen und herausfinden soll, ob eine Selbsthilfegruppe etwas für einen ist oder nicht. «Es ist wie bei den Skills – man muss ausprobieren, welche für einen selbst funktionieren». Roger findet, dass sich die Teilnahme bei einer Selbsthilfegruppe für ihn auf jeden Fall lohnt. Denn immer, wenn er sich in nicht so gutem Zustand hinschleppt, kommt er in einem wesentlich besseren wieder zurück.
Sein Bruder, der nie von der Sucht loskam, starb vor einem halben Jahr. Zu seinen beiden Kindern hat Roger heute ein gutes Verhältnis, wofür er fest gekämpft hatte. Roger konnte sich zudem ein verlässliches Beziehungsnetz zu Menschen ohne psychiatrischen Hintergrund aufbauen. Es geht ihm so gut wie nie zuvor und er sagt bestimmt: «Auch aus den schlimmsten Situationen gibt es einen Ausweg».