Die Scheidungsraten haben seit den 1970er-Jahren stetig zugenommen und fluktuieren in der Schweiz auf einem hohen Niveau. Jährlich lassen sich hierzulande zwischen 16 000 und 17 000 Paare scheiden (Stand 2021). Dabei liegt die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung in der Schweiz bei ca. 40 Prozent. Das bedeutet, dass es seit einigen Jahren wahrscheinlicher ist, dass eine Ehe durch eine Scheidung beendet wird als durch den Tod eines Partners. Somit ist die Scheidung, zumindest in westlichen Ländern, ein häufiges Phänomen. Im folgenden Abschnitt werden die möglichen Folgen einer Scheidung für Kinder und Jugendliche beschrieben.
Die Scheidung ist ein einschneidendes Lebensereignis für alle Betroffenen. Jedoch stellt die Trennung der Eltern besonders für Kinder und Jugendliche einen bedeutenden Risikofaktor für die Entwicklung einer psychischen Störung dar. Im Vergleich zu Kindern aus intakten Familien zeigen Scheidungskinder signifikant schlechtere schulische Leistungen, ein negatives Sozialverhalten, ein negatives emotionales Befinden mit Stimmungsschwankungen und ein negatives Selbstbild. Des Weiteren haben Kinder mit Scheidungserfahrungen Mühe, sich sozial anzupassen und künftig Beziehungen aufrechtzuerhalten. Die Beziehung zur Mutter bzw. zum Vater scheint bei Scheidungskindern auch signifikant schlechter zu sein als bei Kindern in Familien ohne eine Scheidung. Diese Befunde aus der Wissenschaft zeigen deutlich, dass die Scheidung sich auf verschiedenen Ebenen negativ auswirken kann. Die Literatur fasst die Schwierigkeiten von Scheidungskindern in folgenden Bereichen zusammen:
- motivationale Ebene (Lustlosigkeit, Schulunlust, weniger Interesse an Freizeitaktivitäten und Hobbys)
- Verhaltensebene (aggressives, trotziges und oppositionelles Verhalten sowie Konsum von Drogen)
- kognitive Ebene (geringes Selbstwertgefühl, negatives Selbstbild)
- emotionale Ebene (Traurigkeit, Schuldgefühle, Angst und Scham)
- soziale Ebene (sozialer Rückzug und Beziehungsprobleme)
Kinder und Jugendliche reagieren stark auf die Trennung der Eltern, was zu psychischen Auffälligkeiten führen kann. Die negativen Scheidungsfolgen sind bis zu sechs Jahren nach der Scheidung nachweisbar, wobei in den meisten Fällen zwei bis drei Jahre vergehen, bis sich psychische Auffälligkeiten entwickeln. Studienergebnisse bislang zeigen, dass eine Scheidung für Jungen häufig schädlichere Folgen hat als für Mädchen. Die Gründe für diesen Befund sind nicht vollumfänglich geklärt. Es wird jedoch diskutiert, dass mit dem seltener werdenden Kontakt zum Vater eine Identifikationsfigur in der Entwicklung eines Jungen verschwindet bzw. sich distanziert. Dies besonders dann, wenn das Kind eine tragende und gute Beziehung zum Vater aufwies. Jungen mit Scheidungserfahrung entwickeln häufiger Verhaltensprobleme, während bei Mädchen eher internalisierende Auffälligkeiten (z.B. eine depressive Stimmung) beobachtet werden können. Auch das Alter des Kindes spielt eine Rolle, wobei jüngere Kinder stärker auf eine Scheidung reagieren. Kleinkinder reagieren häufig mit Emotionsregulationsstörungen und Bindungsproblemen. Jedoch ist die Befundlage bezüglich des Alters nicht eindeutig, weshalb sich festhalten lässt: Kinder jeglichen Alters leiden unter der Trennung der Eltern.
Die Entwicklung von psychischen Auffälligkeiten in Folge einer Scheidung ist ein komplexer Prozess. Zum einen verändert sich das Erziehungsverhalten und die emotionale Nähe der Eltern. Zum anderen werden die Kinder und Jugendlichen mit ökonomischen und ökologischen Veränderungen (z.B. Umzug, Schulwechsel) konfrontiert. Diese einschneidenden Veränderungen benötigen zur erfolgreichen Bewältigung ein enormes Anpassungsverhalten. Jedoch sind Kinder und Jugendliche oftmals sowohl kognitiv als auch emotional nicht in der Lage, die Herausforderungen – zumindest allein – zu meistern. Kann sich ein betroffenes Kind nicht adäquat an die neue Situation anpassen, erhöht sich das Risiko für die Entwicklung von psychischen Auffälligkeiten.
Im zweiten Teil beschreibt Clienia, wie von einer Scheidung Betroffene unterstützt werden können.